
Schon Ende 2017 wollte ich die fünf Bücher kurz vorstellen, die mich in diesem Jahr am stärksten begeistert hatten. Im Januar war es ein fester Vorsatz, im Februar dachte ich immer noch darüber nach, um dann im März zu erkennen, dass die Zeit dafür abgelaufen war. Sehr schade, denn wenn mir Bücher so gut gefallen, möchte ich immer möglichst viele Leute auf sie aufmerksam machen.
Dieses Jahr wird alles besser. In keiner besonderen Reihenfolge sind das hier die Bücher, die mich 2018 besonders beeindruckt haben:
- Janet Frame: Wenn Eulen schreien
„Wenn Eulen schreien“ ist der zweite Roman nach „Dem neuen Sommer entgegen“, den ich von Janet Frame gelesen habe. Diese Reihenfolge ist zufällig, aber gut, da die Sprache hier noch lyrischer ist und das Erzählte noch drastischer. Es ist nicht verkehrt, wenn man sich bereits an den Klang der Frameschen Erzählwelt gewöhnt hat. Der Roman spielt in Neuseeland und handelt von den vier Geschwistern der Familie Withers. Der Vater ist Eisenbahner, die Familie ist arm und die Kinder spielen am liebsten auf der Müllhalde. Die Familie wird hartnäckig von Unglücken heimgesucht. Eine Schwester verbrennt, der Bruder ist Epileptiker, eine Schwester wird in einer Nervenheilanstalt mit Elektroschocks behandelt. Aber den Roman auf diese Weise zusammenzufassen fühlt sich falsch an, denn es geht um die Sicht auf das Leben dieser Figuren und vor allem um die einzigartige Sprache Janet Frames. - Didier Eribon: Rückkehr nach Reims
Didier Eribon ist Schuld daran, dass ich mich zurzeit durch Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ quäle. Sein eigenes Buch „Rückkehr nach Reims“ ist sehr viel lesbarer. Didier Eribon hatte bereits als junger Mann den Kontakt zu seiner Familie weitestgehend abgebrochen. Er ging nach Paris und wurde dort Soziologe und einer der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs. Eine solche Karriere war für ihn eigentlich nicht vorgesehen, denn er entstammt dem Arbeitermilieu. Der Tod seines Vaters ist für Eribon der Auslöser, um sich nach Jahrzehnten mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen. „Rückkehr nach Reims“ ist ein autobiografisches Buch, in dem der Autor erzählt, wie er als Kind und Jugendlicher lebte und welchen Weg durch die Bildungsinstanzen er nahm. Er hatte es doppelt schwer, denn er war nicht nur Arbeiterkind auf ungewohntem Terrain, sondern wurde auch noch als Homosexueller in seinem Herkunftsmilieu ausgegrenzt. Eribon bleibt aber nicht nur auf der autobiografischen Ebene, schließlich ist er auch Soziologe. Wenn man dieses Buch liest, wird die gläserne Decke, die es auch für Menschen aus dem Arbeitermilieu gibt, plötzlich sichtbar und man erkennt besser, wo welche Beschränkungen existieren. - Leila Slimani: Dann schlaf auch du
Nach dem ersten Satz wollte ich dieses Buch schon vom Balkon werfen. So etwas kann ich einfach nicht lesen! Dann konnte ich nicht anders, als doch das erste Kapitel zu lesen. Dann war aber Schluss. Es endete damit, dass ich das Buch innerhalb von wenig mehr als 24 Stunden komplett las. Es ist packend und grausam. Myriam und Paul sind ein Mittelschichtspaar, das mit seinen Kindern in Paris lebt. Beide haben die Möglichkeit in einem Beruf, den sie lieben, Karriere zu machen. Für ihre beiden Kinder engagieren sie eine Kinderfrau, die sich als schlichtweg perfekt entpuppt und nicht nur die Kinder umsorgt, sondern nebenbei auch noch die Wohnung in Schuss bringt und die Eltern samt deren Freunde bekocht. Doch letztlich bringt eben diese Kinderfrau beide Kinder um. Das ist kein Spoiler, das erfährt man sofort. Leila Slimani lässt uns genau mitverfolgen, wie sich die Beziehung dieser fünf Menschen, der Eltern, der Kinder und ihrer Kinderfrau, entwickelt. Sie schildert alles, was mit den Figuren passiert, überlässt es aber den Lesern, die Schlüsse daraus zu ziehen. Es ist Zufall, dass ich das Buch nach „Rückkehr nach Reims“ gelesen habe, aber es schließt sich thematisch gut daran an. Man kann „Dann schlaf auch du“ als Geschichte dessen lesen, was passiert, wenn man die Menschen am Rand der Gesellschaft übersieht. - Hilary Mantel: Von Geist und Geistern
Jetzt erst fällt mir auf, dass „Von Geist und Geistern“ gewisse Parallelen zu „Rückkehr nach Reims“ aufweist. Auch Hilary Mantel schildert ihre Kindheit und Jugend, eine Zeit, in der sie in ärmlichen Verhältnissen lebte. Die Vorzeichen waren völlig andere, aber auch für sie, war es nicht selbstverständlich eine gute Bildung zu erhalten und zu studieren. Weite Teile des Buches nimmt auch das Leben mit der schweren Krankheit Endometriose ein, unter der Hilary Mantel leidet und die lange nicht erkannt wurde. Eine Nebenwirkung der Krankheit bzw. der Behandlung besteht darin, dass sie sehr dick wurde. Jeder, der abfällig über „diese Dicken“ spricht, sollte mal in „Von Geist und Geistern“ nachlesen, wie das für „diese Leute“ ist. Es ist nur sehr unvollständig zu behaupten, das Buch handele von ihrem Werdegang und ihrer Krankheit. Die Geister ihres Lebens sind das alles umspannende Motiv. Zu diesen Geistern gehört sowohl die Erscheinung, die sie als Kind im Garten schockiert hat, der tote Stiefvater, der noch in einem ihrer Häuser umhergeht und vor allem, die Tochter, die sie niemals hatte, die nur Name und Vorstellung blieb. Das Überwältigende an diesem Buch ist der Blick, mit dem Hilary Mantel ihr Leben betrachtet: ohne Selbstmitleid, dafür offen, schonungslos und mit Humor. - Neil Gaiman: Beobachtungen aus der letzten Reihe
„Beobachtungen aus der letzten Reihe“ im Deutschen mit dem Untertitel „Über die Kunst, das Lesen und warum wir Geschichten brauchen“ versehen, enthält Reden, Vorworte und Essays von Neil Gaiman, die bereits verstreut erschienen sind. Seine berühmte „Make good Art“-Rede ist zum Beispiel darunter. Die Texte über das Lesen und Schreiben sind wahrscheinlich einfach schön, weil man in dem bestätigt wird, was man sowieso mag. Obwohl auch so durchdenkenswerte Fragen darin stecken wie „Sollte man die Lektüre von Kindern steuern oder sie lesen lassen, was sie wollen?“ Lasst sie lesen, was sie wollen, sagt Gaiman. Ich mag seine Haltung, seine klugen Betrachtungen, den Humor, die Bilder, den Klang seiner Sätze … Das alles lässt mich auch gerne die Texte lesen über Comics, Musik, Filme, Schriftsteller, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Nicht selten führt es dazu, dass ich mir die erwähnte Musik anhöre und in die Bücher hineinlese. „Beobachtungen aus der letzten Reihe“ ist so eine Art Krakenbuch, das dafür sorgt, dass Leser ihre Fühler ausstrecken, neues Terrain erkunden, ihren Horizont erweitern.
Das wären übrigens meine Bücher des Jahres 2017 gewesen:
- Thomas Melle: Die Welt im Rücken
- John Banville: Die See
- Hilary Mantel: Wölfe / Falken
- J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land
- Janet Frame: Dem neuen Sommer entgegen